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Peter Handke über die Wut Schimpfen ist ein Ausdruck von Hilflosigkeit
Wenn man über Ihren Auftritt damals liest ...
... das war ja kein Auftritt, ich bin einfach aufgestanden. Zwei Tage lang hatte ich mir diese soziale Abbildungsbeschreibungsliteratur angehört, die damals auf der Tagung zu hören war, und ich stehe immer noch dazu, dass es gut war, dagegen etwas zu äußern. Aber es war nicht Wut, es war Gereiztheit.
Hatten Sie sich vorher vorgenommen, zu protestieren?
Im Nachhinein habe ich so oft gelesen, dass ich es vorhatte, dass ich inzwischen selbst im Zweifel bin, ob ich es nicht wirklich vorgehabt habe. Mein so genanntes Wissen sagt mir: Nein, das hat sich sicher aufgestaut über diese ein, zwei Tage des Zuhörens.
Es gibt ein berühmtes Foto, das Sie im Publikum zeigt. Es ist Pause, alle sind im Gespräch oder aufgestanden, nur Sie sitzen alleine da. Hatten Sie auf der Tagung Komplizen?
Sogar Goethe hat, als er älter wurde, überall Komplizen gesucht, oder Bundesgenossen, auch ein schönes Wort im Grunde. Meine Haupteigenschaft ist eigentlich die Scheu. Ich habe mich deshalb eher von Ferne verbunden gefühlt, weniger meinen Altersgenossen als mit Peter Weiss, und mit Günter Grass, dessen erste zwei Bücher, „Blechtrommel“ und „Katz und Maus“ für mich Erlebnisse waren. Als junger Student habe ich gedacht: „Mensch, ist so etwas in der deutschen Sprache möglich?“
Die Kritiker haben einige Schriftsteller ziemlich zerlegt.
Ein amerikanischer Kritiker hat damals geschrieben, dass es so schwierig war, in die Tagung hineinzukommen wie in den Himmel. Und Dieter E. Zimmer von der „Zeit“ ...
... das war ein stiller Mann, den habe ich im Guten gespürt.
... meinte, sie habe in einer solchen Abgeschlossenheit stattgefunden, dass man genauso gut nach Travemünde hätte fahren können. Hat Sie diese Selbstgenügsamkeit geärgert?
Ja, es ist eine Art Schatz, nur mit sich selbst zu sprechen. Aber irgendwann wird der Schatz ranzig. Deswegen war es gut, dass ich mich da selbst hineingestoßen habe und auch hineingestoßen wurde. Die „Publikumsbeschimpfung“ war damals ja mein erstes Stück, es sollte zwei Monate später gespielt werden. Und ich war einfach felsenfest oder wasserfest davon überzeugt, dass es ein Erfolg würde. Ja ich war sogar so eingebildet, zu denken, das wird ein Welterfolg.
Ging es bei der „Publikumsbeschimpfung“ denn um Wut?
Ah, nein. Es war einfach nur Spielfreude und Analyse meiner Skepsis dem Theater gegenüber. Meine erste Frau war Schauspielerin in Graz, und ich sah immer wieder Brecht, Horvath und Beckett, manchmal auch Dürrenmatt und Shakespeare. Und das war meine Reaktion. Dadurch, dass ich endlich aus meiner Abgeschlossenheit herauskam, war das Stück so eine Art Speerwerfen für mich: rhythmisch gegliedert, mit viel Verneinungen und unter dem Eindruck der Beatles und all der anderen Deppen, die ich in der Jukebox gehört hatte. Es war für mich eine gewaltige Befreiung. Es sind nur Zitate, montiert und rhythmisiert. Es sind alles Schimpfwörter, die gebräuchlich waren, bis auf eines, ein österreichisches Wort, „Pülcher“, das ist ein schwerfälliger, grober Mensch, der überall ins Fettnäpfchen tritt.
Sie haben in den Jahren darauf ziemlich gut besuchte Lesungen gehabt.
Da ist wahr, ja.
Bei einer, 1971 in Graz, hat ein Polizist Sie nicht hereingelassen, weil es schon so voll war. Es soll zu „Handgreiflichkeiten“ gekommen sei. Haben Sie dem eine geknallt?
Nein, er hat mir den Arm auf den Rücken gebogen, und ich habe ihm einen Tritt gegen das Schienbein gegeben. Ich wurde dann verhaftet.
Haben Sie ihn auch beschimpft?
Sicher, ich hoffe. Ich weiß nicht, wie, wahrscheinlich: „Du Nazischwein!“ oder so etwas, eher hilflos. Schimpfen ist ja oft ein Ausdruck von Hilflosigkeit. Hier in Chaville gibt es in der Nachbarschaft ein paar Hunde, die manchmal tagelang brüllen. Und ich habe oben auf den Balkon einen CD-Spieler gestellt. Immer, wenn sie brüllen, mache ich ganz laut armenische Musik an.
Nachts?
Nein, tagsüber.
Und dann hören die Hunde auf?
Nein, aber mich beruhigt es. Das ist meine Rache, diese herrliche weittragende und traurige Musik von Komitas. Ich kann es Ihnen nachher vorspielen.
Gerne. Ändert sich das Verhältnis zur Wut mit dem Alter oder ändern sich die Anlässe, die Wut auslösen?
Im Laufe der Jahre ändert sich die Form der Wut, aber los wird man sie nie, glaube ich.
Braucht man Wut zum Schreiben?
„Großgrundbesitzer“ habe ich sicher nicht gesagt, „Giftzwerg“ habe ich gesagt. Das war am Attersee. Als junger Schreiber hat mir Thomas Bernhard ja gut getan, wie er da als Österreicher mit einem Spieß das fette Land durchstieß. Die ersten zwei, drei Bücher waren wie eine Erlösung für mich. Aber allmählich hat es angefangen, mich abzustoßen und zu erzürnen. Ich habe dann gedacht, dass es eine Mache ist, eine sehr schlaue und rhythmisch gut durchgezogene Mache, diese negative Kraft ist ja unvergleichlich, da kommt niemand an ihn heran. Am Attersee war auch sein sogenannter „Lebensmensch“ dabei, wenn ich das Wort schon höre, da krieg ich wirklich einen Wutanfall. Ein scheußliches Wort! Man sagt: meine Frau oder meine Lebensgefährtin oder Geliebte oder meine Komplizin oder meine Expeditionsbegleiterin. Aber doch nicht „Lebensmensch“! Ich weiß nicht, wie es kam, durch das Trinken vielleicht. Jedenfalls habe ich dann plötzlich losgelegt.
Was haben Sie gesagt?
„Lieber Thomas Bernhard, wie Sie schreiben, das ziemt sich nicht.“ Da ist er aufgestanden, hat bezahlt und ist gegangen. Danach hat es mir weh getan, dass ich so heftig war. Es bringt ja nichts. Man kann jemanden nicht überzeugen, dass er eine Kehrtwendung macht und plötzlich weiße Segel aufzieht über seine Bücher. Er ist ein Meister. Aber ich mag keine Meister. Auch Goethe war kein Meister, er war ein ordentlicher Stümper. Ich habe von Goethe gerade „Die natürliche Tochter“ gelesen. Da gibt es herrliche Momente, aber das Stück ist total bescheuert. Er war eigentlich nie Meister. Die können mir alle gestohlen bleiben, die Meister. Grass hatte ein Problem mit der Zeit, er war drei Jahre seines Lebens ein Genie, dann blieb nur noch der Gestus von Genie, die Seele, die brummende, feurige, weinende Seele ist flöten gegangen. Das hat mich auch empört, diese Selbstgerechtigkeit bei Grass, weil einmal etwas da war, das ich verehrt habe, etwas Kostbares.
Lesen Sie Kritiken?
Ja, immer. Aber es werden mir nicht mehr alle geschickt inzwischen.
Kriegen Sie da auch Wutanfälle?
Nein, inzwischen werde ich sehr freundlich behandelt. Manchmal habe ich früher gedacht: Der macht das extra falsch. Das ist schon lange her, aber es kommt vielleicht wieder. Sicher kommt es wieder. Ich sag immer: „Man ist als Schreiber nicht legal.“ Man muss einfach akzeptieren, dass man verfolgt wird.
Als Illegaler?
Ja. Ich bin Illegaler. Klingt ein bisschen sinnspruchhaft. Aber ich sage es zu mir selber, und dann ist es kein Sinnspruch.
Wir gehen nach oben auf den Balkon, und er dreht die armenische Musik im CD-Spieler voll auf. Es bellt kein Hund, aber man hört die sehnsuchtsvolle Melodie sicher bis in den Wald hinein.
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